Der Spaß, den sie hatten
Die traurige Wahrheit ist: Ich war nie ein besonders guter Schüler. Die Vorstellung einer Mathearbeit entfachte in mir ungefähr genauso viel Enthusiasmus wie die Aussicht auf eine neue Pandemie durch Affenpocken und im Lateinunterricht vermochte ich bis zuletzt nicht eindeutig ein Verb von einem Adjektiv zu unterscheiden. Die Folge: Es hagelte schlechte Noten. Man könnte jetzt denken, dass die Schule für mich daher eher das Mordor der jugendlichen Welt war, aber das stimmt nicht. Irgendjemand muss doch den Ring aus schlechten Noten zerstören und wie ginge das besser, als mit dem Feuer der Erlebnisse, die eben nicht die eigene Leistung anhand von Noten bemessen, sondern ganz andere Maßstäbe zur geltenden Größe erheben.
Man hört in der Schule oft den Satz: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir.“ Ein Satz, der in mir immer mehr ein Augenrollen als eine größere Motivation ausgelöst hatte. Aber tatsächlich ist es nicht falsch. Die Schule prägt uns für das Leben. Dabei kommt es oft weniger auf die Noten an, als man vielleicht meinen sollte. Ich hatte auf der Winfriedschule Begegnungen und Erlebnisse, die mich nachhaltig geprägt haben. Ich spreche hier vor allem von Lehrerinnen und Lehrern, aber auch von Freundschaften, die ich bis heute pflege. Von einigen dieser Begegnungen möchte ich berichten.
Da wäre zum Beispiel meine Liebe zum Fach Geschichte, die durch Herrn Jansen geweckt wurde. Sie führte dazu, dass ich heute Gästeführer der Stadt Fulda bin und zusammen mit Kolleginnen und Kollegen zwei Bücher über Fulda herausgebracht habe, die kleine Geschichten zur Stadthistorie erzählen. Der Geschichtsunterricht führte mich auch zu meinem Studium der Staatswissenschaften, welches ich an der Universität Erfurt, sowohl im Bachelor- als auch im Masterstudiengang, belegte. Damals stand in einem Arbeitsblatt der Begriff Staatswissenschaften und dies weckte sofort mein Interesse. Der Studiengang ist vielseitig und abwechslungsreich oder, wie die Marketingmenschen sagen würden: inter-disziplinär. Er setzt sich aus Wirtschaftswissenschaften, Sozialwissenschaften und Rechtswissenschaften zusammen.
Deutschunterricht hatte ich bei Frau Appel. Meine Rechtschreibung war katastrophal. Es hätte bestimmt viele Gründe gegeben, mich abzuschreiben. Es kam allerdings anders: Frau Appel schlug mir vor, beim Literaturwettbewerb des Literaturhauses Frankfurt mitzumachen. Kurzprosa. Sie korrigierte meine Texte und ermutigte mich, diese einzureichen. Und tatsächlich klappte es. Ich gewann beim Wettbewerb „Schreibzimmer“ und durfte mit elf anderen Jugendlichen bei der Schreibwerkstatt der Autorin Ricarda Junge mitmachen. Seitdem schreibe ich nicht nur gerne Kurzgeschichten, sondern eigentlich alles. Von Geburtstagskarten über Pressetexte bis hin zu umfangreichen Förderanträgen. Sehr hilfreich für das Berufsleben jedenfalls.
Als sportbegeisterter Schüler hatte ich natürlich den dreistündigen Sportgrundkurs, in dem man sich auch im Abitur prüfen lassen konnte. Herr Huke war mein Lehrer. Ich spielte passabel Badminton, ignorierte die Sporttheorie gewissenhaft und lernte auch die lateinischen Begriffe für Muskeln nur unzureichend (siehe Einleitung). Meine Leidenschaft galt dem Tischtennis und so fragte ich Herrn Huke, ob er sich fern vom bisherigen Standard eine praktische Prüfung im Tischtennis vorstellen könnte. Das konnte er und so bin ich bis heute der einzige Schüler im Landkreis Fulda, der jemals seine praktische Sportprüfung im Tischtennis abgelegt hat. Meine Kollegen beim Deutschen Tischtennisbund in Frankfurt, bei dem ich nach meinem Studium arbeitete, lachten noch viele Male darüber, dass ich das Wettkampfspiel in meiner Prüfung verloren hatte…
Und dann ist da noch eine sehr prägende Sache gewesen: das Fach Darstellendes Spiel. Als erster Kurs überhaupt haben wir damals unter der Anleitung von Herrn Bartsch die Trash-Oper „Haltestelle Geister“ aufgeführt. Ein ganz fantastisches Stück. Sehr derb, an der Grenze des Erträglichen, aber mit unglaublicher Wucht. Ich spielte den Mann vom Grillimbiss. Herr Bartsch hat damals sehr viel Zeit und Energie in das Projekt gesteckt, denn das Fach war keinesfalls gesetzt. Es ist für mich immer noch unverständlich, wieso dieses Fach nicht längst zur Norm an allen Schulen geworden ist. Sicherlich wurde das Fach mehr als einmal belächelt, aber ich sage es ganz offen: Nur wenig hat mir in der Schule so viel für mein späteres Leben gebracht, wie die Erfahrungen aus den zwei Jahren, in denen ich dieses Fach belegen konnte. Auf einer Bühne vor so vielen Menschen zu stehen, die abverlangte Kreativität, die Improvisationskunst, das Arbeiten im Team, der Aufwand an Kommunikation und Flexibilität waren für mein berufliches Leben unglaublich wertvoll. All diese Fähigkeiten wurden vom Fach Darstellendes Spiel gefordert und gefördert. Die oftmals als Softskills bezeichneten Fähigkeiten eines Menschen, die in der Schule maximal noch durch die Kopfnote repräsentiert werden, sind für einen erfolgreichen Werdegang mitunter wichtiger als jede Note.
Es gibt eine Geschichte des Autors Isaac Asimov, dem Vater der Robotergesetze. Diese Science-Fiction-Kurzgeschichte heißt: „Der Spaß, den sie hatten“. Sie erzählt von zwei Kindern in der Zukunft, die von einem Roboter unterrichtet werden und die ein altes Buch auf dem Dachboden finden. In diesem wird beschrieben, wie Kinder früher in die Schule gingen und dort mit der Hilfe menschlicher Lehrer gemeinsam lernten. Während der Roboter mit blecherner Stimme Inhalte herunterrattert, schweifen die Gedanken des Mädchens ab und sie stellt sich vor, wie schön es wohl damals in der Schule gewesen sein musste. Sie denkt an den Spaß, den die Schulkinder damals wohl gehabt haben müssen.
In der Corona-Zeit sind wir dieser Dystopie schon verdächtig nahegekommen. Distanzunterricht und Kontaktvermeidung prägten das Bild der Schule. Ich arbeite derzeit als kommissarischer Leiter der Volkshochschule der Stadt Fulda. Unser Slogan lautet: „Bildung und Begegnung“. Jeder weiß, dass das wichtigste bei einem Seminar oder einer Fortbildung die Kaffeepausen sind. Diese „Geschichtchen“ aus meiner Schulzeit sollen genau das zeigen. Es geht nicht nur darum, das Curriculum Stück für Stück abzuarbeiten, wie das der Roboter bei Asimov natürlich perfekt hinbekommt. Es geht in der Schule auch um Begegnung und Erlebnisse außerhalb des Curriculums. Häufig sind es nämlich genau diese Dinge, bei denen wir für das Leben lernen. Dafür braucht es aber engagierte Lehrerinnen und Lehrer: solche, die Begeisterung auslösen können, das Selbstbewusstsein stärken, offen und flexibel sind, und solche, die neue Wege gehen und etwas versuchen. Zum hundertjährigen Bestehen der Winfriedschule wünsche ich der Schule und ihren Verantwortlichen, dass sie im Ringen um das Beste für die Schülerinnen und Schüler genau diese Lehrerinnen und Lehrer erkennt und an sich bindet, damit man in einigen Jahren auf den Spaß, den man hatte, zurückblicken kann.
André König